Nur eine Mietwohnung //

Während der Vorbereitungen zum Dokumentarfilm BRÖTZMANN im Frühjahr 2011 telefonierte ich mit Hans Reichel, um ihn zu fragen, ob er sich als Zeitzeuge und Kollege von Peter Brötzmann für ein Interview zur Verfügung stellen möchte. Er wollte wissen, warum, was er denn vermitteln könnte, das irgendjemanden interessiert? Ich sagte ihm, dass er einen erheblichen Anteil an der Entwicklung der improvisierten Musik in Wuppertal hat, dass er ein wesentlicher Bestandteil dieser Szene ist, eine Identifikationsperson und insofern sicherlich einiges zum Thema beisteuern könnte. Der Begriff Szene versetzte ihn in Rage. „Was soll das denn sein, eine Szene? Ich habe hier ´ne Mietwohnung  und das ist auch schon alles!“

Last not least nahm er an dem Film nicht teil.

Bei allem Respekt, den die jeweiligen Herren vor dem Tun und den Errungenschaften der Anderen hatten: die maßgeblichen Köpfe dieser „Szene“ waren und sind äußerst starke und wild entschlossene Persönlichkeiten, und insofern hat es bei diversen Aufeinandertreffen von Brötzmann, Kowald und Reichel nicht nur freundschaftliche Worte gegeben. Zu diesem Umstand sagte Brötzmann im Film, dass speziell er und Kowald des Öfteren sehr heftig gestritten haben. Er findet das absolut in Ordnung, denn erstens gehört das zur Klärung verschiedener Standpunkte nun mal dazu und zweitens kann ein Streit ja auch Spaß machen. Diese Einsicht mag auf den ersten Blick verstören, denn heute wird für fast jedes Problem, für noch so unversöhnliche Perspektiven ein Konsens gesucht und auf Basis irgendeines gemeinsamen Nenners auch meist gefunden. Herrlich die Zeiten, in denen um eine Idee oder Überzeugung so intensiv gestritten wurde, dass die Fetzen flogen. Streiten ist allerdings auch eine Kunst. Zu guter Letzt ist es nicht erheblich, ob es knallt oder nicht, sondern, dass „Butter bei die Fische“ kommt.

„Eine Szene – was soll das denn sein? Ich habe hier ’ne Mietwohnung!“ hat mir zu Denken gegeben. Für mich ist das etwas Normales – ich habe mich oft in Szenen bewegt. Eine Szene ist doch nicht mehr und nicht weniger als ein abstraktes Bündnis von Leuten, ein identitätsstiftender Pool.

Abstrakt, weil ein Begriff niemals die Vielfalt aller in dieser Szene versammelten Menschen widerspiegeln kann. Ein Bündnis, weil die meisten Menschen nach gemeinsamen Pools streben, in denen sie sich mit dem, was in jener vermeintlichen Szene Sache ist, identifizieren können. Nehme ich die Wuppertaler Free Jazz-Szene als Beispiel, so weiß ich, warum sich viele Leute mit ihr identifizieren: Der Wuppertaler Free Jazz wurde berühmt für seine radikale Musik und radikale Haltung. Die Leute, die diese Zeit erlebt haben, sprechen noch heute von unglaublichen Konzerten, die so radikal und einzigartig waren, dass sie ein kulturelles Erdbeben ausgelöst haben.

Von diesen Erdbeben erzählen einige, die dabei waren wie von einem Wunder. Vielleicht waren es gar nicht die Erdbeben, sondern der Umstand, dass eine erst kleine, später größere Gruppe von Leuten gespürt hat, dass da etwas Einmaliges, Unvergleichliches passierte? Da wurde etwas ausgelöst und bewegt, auf das die Leute bis heute stolz sind. Stolz, weil sie an dieser Entwicklung teilhaben konnten. Nicht die Schönheit oder die Erneuerung des Jazz standen im Mittelpunkt des Wuppertaler Treibens, sondern eine radikale Umwälzung der Hörgewohnheiten. Die Basis dessen war sicherlich Jazz, das, was da passierte, sprengte diesen Rahmen allerdings auf explosive Weise. Die Wuppertaler Free Jazz-Szene hat einen erheblichen Beitrag zur Befreiung der zutiefst verletzten deutschen Nachkriegsseele geleistet. Viele Künstler und deren Freunde haben gezeigt, dass von „deutschem Boden“ auch etwas sehr Positives, Freiheitliches ausgehen kann.

Das Zentrum dieser „Szene“ war Wuppertal. Dass Hans Reichel ein Problem mit dem Begriff hatte, wird auch daran liegen, dass jede kreative Nuance, sei sie noch so unbeschreiblich, noch so kraftvoll und eigen, in eine Schublade gesteckt wird. Reichels Streben nach künstlerischer Freiheit war eine andere, als die von Brötzmann und Kowald, hatte allerdings einigen Einfluss auf den “Mythos” Wuppertaler Free Jazz. Brötzmann ist die Lichtgestalt, bis heute. Kowald war ein exzellenter Kommunikator und Netzwerker und Reichel verstand sich offensichtlich vor allem als Arbeiter, der mit dem Daxo ein äußerst exotisches  Instrument erfunden und diverse Fonts entwickelt und gestaltet hat.

Insofern ist seine Abneigung absolut nachvollziehbar, denn eine Szene ist die Summe jedes Einzelnen, der oder die zum Wesen dessen beiträgt, was dort Sache ist. Der individuelle Beitrag, etwas womöglich unbegreifliches und einzigartiges, wird allerdings auf  einige gemeinsame Nenner reduziert. Für ihn selbst war der Beitrag zum kulturellen Erdbeben sein täglich Brot. Die besten Ideen hatte er vielleicht nicht auf der Bühne oder im Atelier, sondern in seiner Mietwohnung.

Dennoch mag ich die Vorstellung, dass sich die Dinge in einer Szene abspielen. Ich habe mich in verschiedenen kreativen Gruppen bewegt und nicht selten Identifikation erfahren.  Manchmal fühlte ich  mich sicherer, hatte Vertrauen auf das, was ich da tat, weil ich wusste, dass es in diesem Pool von gleich oder ähnlich gesinnten gut aufgehoben war und ist. Die Arbeit, das Aushecken von Ideen und Plänen fällt leichter, wenn ich weiß, dass es Leute gibt, die zumindest Interesse an dem haben, was mich bewegt.

Ein Beispiel aus meiner eigenen Vita: Als ich beim Platten Auflegen begann, mehr und mehr Jazz in meine elektronischen Sessions einzubauen, gab es auf der Tanzfläche oder am Tresen kontroverse Reaktionen. Zuspruch, Kopf schütteln und manchmal sogar aggressive Ablehnung. Die Gäste konfrontierten mich mit Emotionen  und das ermutigte mich, mehr zu wagen. Bald integrierte ich Jazz in meine Sets, in dem der Beat nicht straight war und die Tanzenden herausforderte, einen eigenen Rhythmus zu finden. Mal hat es funktioniert, mal nicht. Die Leute tanzten meistens weiter. In einer anderen Stadt konnte das völlig anders sein. Das ging soweit, dass ein Clubbesitzer zu mir kam und mich fragte, ob ich den Laden leer spielen wollte?! Ich verzichtete und lieferte einfach den Sound, der von mir erwartet wurde. In der Fremde konnte die Lust am Experiment fatale Folgen für die Party haben. Das Vertrauen der Szene zu Hause bestärkte mich, den Mix aus Electronics und Jazz zu perfektionieren – so lange, bis es auch in der Fremde funktionierte.

Derzeit ist es sehr spannend, am Arrenberg zu leben und einen Teil dazu beitragen zu können, dass das Viertel nachhaltig lebendig bleibt. Es ist nicht selbstverständlich, in einer Gegend zu wohnen, in der Menschen aus so vielen Ländern leben. Italiener, Ghanaer,  Japaner und Chinesen, Polen, Rumänen, Inder und Pakistani, Griechen, Albaner, Türken, Deutsche und und und. Täglich höre ich Sprachen und  Musiken aus verschiedenen Ecken der Welt. Ich rieche den Duft aus manchen Küchen und sehe, wie all diese Leute auf dem Spielplatz oder der Strasse zusammen stehen und sich mit Händen und Füßen und ein paar Brocken deutsch unterhalten. Ich erlebe das als ein wertvolles Geschenk. Ich kann am Alltag dieser unterschiedlichen Kulturen teilhaben, direkt vor meiner Tür.

Obendrein haben sich vor einigen Jahren mehrere entschlossene Köpfe entschieden, das Viertel, das bis vor kurzem den Ruf eines Ghettos hatte, aus seinem Dornröschenschlaf aufzuwecken. Ich mochte den Arrenberg auch, als er ein „Ghetto“ war, bin in einer ähnlichen Gegend in Berlin aufgewachsen. Ein Viertel, das am Boden liegt, wieder auf die Beine zu stellen, in einer Stadt, die kaum Mittel hat, aus eigener Kraft notwendige Weichen zu stellen – das gefällt mir. Weil private Initiativen mit erheblichen privaten Mitteln Risiken eingehen, die ebenso funktionieren wie scheitern können…

Ich mag Orte, an denen etwas entsteht, ohne absehen zu können, wohin es führen wird. Das lässt Raum für Phantasien und Utopien. Wäre schön, sogar beispielhaft, wenn in mehreren Jahren noch immer eine solche Vielfalt herrschen wird. Hier entsteht gerade eine sehr interessante Szene.

 Daxofon / Copyright Hans Reichel

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Eine Antwort auf Nur eine Mietwohnung //

  1. Gisela Mann von Weiss Gisela Mann von Weiss sagt:

    Dass hier am Arrenberg eine sehr interessante Szene entsteht, haben wir auch dir zu verdanken, lieber Charles. Hier zeigst du, dass du nicht nur musikalisch eine Bereicherung bist sondern auch deine Gedanken klug “zu setzen” weißt.
    Liebe Grüße
    Gisela

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